Arbeit nach Corona: Fünf Thesen, wie sich unsere Arbeitswelt verändert

DIE PANDEMIE VERÄNDERT DIE ARBEITSWELT – ABER WIE GENAU?

Wenn man sich aktuell Zeitungen und Magazine anschaut, fällt auf, dass zwei große Themen sich wie ein roter Faden durch die Presselandschaft ziehen. Auf der einen Seite Corona selbst: Infektionszahlen, Reproduktionszahl, Risikogebiete. Auf der anderen Seite: die Welt der Arbeit. Mit den direkten Effekten der Pandemie: Kurzarbeit, Wirtschaftsprognosen und Homeoffice. Und dann geht der Blick voraus: Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Was macht die Pandemie mit der Arbeitswelt? (Dazwischen natürlich die Tagespolitik, aber die filtere ich hier mal raus.)

Corona und die Welt der Arbeit beschäftigen uns – aus gutem Grund. Wenn Sie jetzt glauben, ich mache ein weiteres der vielen Orakel auf, unter welchen Rahmenbedingungen Arbeitsminister Heil uns in Zukunft Homeoffice ermöglicht, kann ich Sie beruhigen. Es geht mir um ein paar Aspekte, die noch weniger Beachtung in der öffentlichen Diskussion gefunden haben. Also Vorhang auf für meine fünf Thesen zur Zukunft der Arbeit.

These 1: Ein Teil des Work-Life-Blending wird hängenbleiben

Oder anders gesagt: Büroarbeiter kommen auf den Geschmack des Homeoffice. Eine Selbstverständlichkeit? Ich glaube nicht. So wie viele von Ihnen wurde auch ich im März erstmal zum Homeoffice angehalten. Ging es Ihnen genauso wie mir, dass Sie diesen Arbeitsmodus erstmal lernen mussten? Es ist ja nicht so, dass wir nicht vorher auch schon Skype, Zoom und Teams kannten. Aber jetzt wurden diese Tools auf einmal zum Lebensmittelpunkt, Ort der sozialen Kontakte „auf der Arbeit“. Faszinierend, dass die Arbeit – zumindest in meinem Umfeld – doch recht gut weiterging. Das war „Phase 1“. Dann kam „Phase 2“: man erkannte die Grenzen der Kommunikation am Bildschirm. Hat Webinare besucht, nach denen man sich fragte, wie man „overcommunicate“ ins Deutsche übersetzt. Und dann „Phase 3“: Man sehnt sich nach persönlichen Meetings. Und wenn man mal eins hat, beschwört man zwangsläufig irgendwie doch die Vorteile der Arbeit vor Ort.

Aber bei alledem hat man vielleicht vergessen, dass auch eine positive Anpassung an die neue (Büro-)Arbeitswelt stattgefunden hat. Dass man mal eben mit dem/der Partner/in mittags Essen gemacht hat oder essen gegangen ist. Dass man mal eben die Kinder von der Schule abholen und sich aushelfen konnte, ohne dafür eine halbe Stunde zu fahren. Meine These zu „Phase 4“ bzw. Post-Corona: Wir werden mal ausprobieren, wie es ist, überwiegend wieder im Büro zu arbeiten. Und dann merken, wie viele Vorteile das „Mischleben“ zuhause doch hatte. Für uns klarhaben, dass Work-Life-Blending nicht nur „Entgrenzung“ ist, sondern auch Lebensqualität sein kann. Die wir nach Corona wahrscheinlich nicht komplett aufgeben, sondern teilweise erhalten wollen. Zum Beispiel dadurch, dass wir einige Tage der Woche eben auch weiterhin aus dem Homeoffice arbeiten – und das Beste aus beiden Welten vereinen.

These 2: Unsere Kompetenz in der Verwendung von Arbeitszeit wird steigen

Unsere was? Ja, ich bezeichne unsere Fähigkeit, die eigene Arbeitszeit einzuteilen, als eine besondere Kompetenz. Übrigens eine teilweise sehr anspruchsvolle. Oder haben Sie sich noch nicht dabei erwischt, dass Sie ein Thema, das Sie morgens in ihrer Mailbox hatten, direkt bearbeitet haben. Und dann das nächste und das nächste, bis Sie sich abends gefragt haben, warum Sie eigentlich die wirklich wichtigen Themen den ganzen Tag haben liegen lassen? Das zu vermeiden, ist die Fähigkeit zur Priorisierung der eigenen Aufgaben.

Eine weitere (Arbeitsorganisations-)Kompetenz: die Fähigkeit zu erkennen, welches Mittel in welcher Situation am effektivsten zum Ziel führt. Das gab es in der Vor-Corona-Zeit auch schon. Arbeite ich jetzt erstmal allein auf dem Thema weiter, frage ich eine/n Kollegen/in um Rat, oder bestelle ich ein Meeting ein? Meine These: Diese Methodenkompetenz wird nachhaltig um eine Dimension reicher werden. Nämlich um die Frage: Gehe ich heute ins Büro, kläre ein paar Dinge persönlich, habe ein paar (physische) Meetings und „socialize“? Oder bleibe ich zu Hause, besuche vielleicht das eine oder andere Meeting, habe einige Zeit für das konzentrierte Abarbeiten einiger Aufgaben und nutze nebenbei noch die Flexibilität des Work-Life-Blending (siehe oben)? Wie stark wechsle ich zwischen diesen beiden Modi? Diese Kompetenz ist es, die man nutzbringend einsetzen kann – und die erforderlich ist, damit die viel beschworene „schöne neue Homeoffice-Welt“ zu einem Win-Win für Mitarbeiter und Unternehmen wird.

These 3: Der Flexibilitätsgraben zwischen Büroarbeit und gewerblicher Arbeit wird größer

Schon bisher hat sich in der Welt der Arbeit ein großer Graben aufgetan. Auf der einen Seite die Büroarbeit – seit Jahrzehnten mit Gleitzeit und Vertrauensarbeitszeit als Standard. Mit New Work, kreativer Arbeit auf ungewöhnlichen Sitzmöbeln, Kicker, Sabbaticals, Sterneköchen im Betriebsrestaurant und was das Herz sonst noch begehrt. (Okay, ich übertreibe, aber Sie wissen, was ich meine.) Auf der anderen Seite der gewerbliche Bereich. Mit Schichtarbeit, möglicherweise Nachtschichten, Feiertags- und Wochenendarbeit, vorgegebenen Arbeitszeiten und der Möglichkeit, schon heute auszurechnen, welche Schicht ich am letzten Tag meines Berufslebens arbeiten werde.

Die BAUA hat 2016 festgestellt, dass flexible Arbeitszeiten am gewerblichen Bereich fast vollständig vorbeigehen. Und jetzt noch das: Corona gibt den New-Work-Hipstern auch noch die Möglichkeit, jederzeit von Zuhause, aus irgendwelchen (natürlich hygienisch tadellos geführten) Cafés zu arbeiten, und zwar nicht nur ab und zu mal, sondern jeden Tag. Während die Mitarbeiter in Produktion, Logistik und Dienstleistung sich in Fabrik- und Lagerhallen einem (hoffentlich begrenzten) Infektionsrisiko aussetzen und weiter schuften. Da läuft was falsch? Irgendwie schon. Also schnell zur nächsten These.

These 4: Der Druck zu flexiblen Wochenarbeitszeiten in der Schichtarbeit steigt

Okay, eigentlich kein neues Thema. Die Tarifabschlüsse z. B. in der Chemie-, Metall- und Elektroindustrie zeigen es. Zum Beispiel im „Potsdamer Modell“ der Nordost-Chemie, dem „T-Zug“ der Metall- und Elektroindustrie oder dem „Zukunftsbetrag“ der Chemieindustrie. Ein wiederkehrender Bestandteil in diesen Vereinbarungen: die Möglichkeit zur Absenkung der Wochenarbeitszeit. Mit der sich diese Industrien attraktiver für Arbeitnehmer machen. Also ein Relikt aus Vor-Corona-Zeiten? Nicht wirklich. Die Kurzarbeitssituation in vielen Betrieben regt gerade die Fantasie der Gewerkschaften an, ob man nicht auch unter Normalumständen Arbeitszeiten absenken könnte – permanent oder temporär, für alle oder mitarbeiterindividuell.

Welches Szenario ist also wahrscheinlich – in Bezug auf Corona, Wirtschaft und die Arbeitswelt? In Bezug auf Corona, dass wir in absehbarer Zeit einen ausreichend wirksamen Impfstoff haben. Für die Wirtschaft, dass Sie unter günstigen Umständen sich so schnell wieder auf das alte Maß erholt, wie sie ab März abgestürzt ist (die sogenannte „V-Kurve“). Und für die Arbeitswelt, dass die Flexibilisierungsthemen mindestens so schnell wieder eine Relevanz haben, welche die Vor-Corona-Relevanz übersteigen dürfe. Zeit also sich Gedanken zu machen, wie man damit umgehen will – übrigens ein Thema, mit dem sich in der Tat viele Betriebe trotz der Pandemie weiterhin beschäftigen.

These 5: Klassische Schichtarbeit wird noch stärker auf den Prüfstand gestellt

Und jetzt zu meiner anspruchsvollsten These. Zugegebenermaßen einer, die den höchsten hypothetischen Anteil hat. Denn sie erfordert, dass wir ein paar Dinge in der Schichtarbeit nochmal systematisch durchdenken. Und wer tut das schon gerne? Also Achtung – ich nehme Sie jetzt auf einen kleinen mathematisch-logischen Exkurs mit. Und frage: Warum gibt es eigentlich Schichtarbeit?

Zunächst einmal, weil es Bereiche gibt, in denen wir Arbeitszeiten vorplanen müssen. In der Produktion zum Beispiel, weil Maschinen und Anlagen möglichst gut ausgelastet werden sollen. So weit, so gut. Trotzdem fordere ich Sie jetzt heraus. Sagen wir mal, Sie müssten eine Extraschicht am Samstag fahren – eine nicht seltene Situation in Produktionsbetrieben. Gibt es einen Grund dafür, dass man alle Mitarbeiter um 6 Uhr einbestellt und dann die Maschinen anlaufen lässt? Oder wäre es genauso gut, um 7 Uhr oder 8 Uhr zu starten, wenn es trotz allem bei der gleichen Arbeitszeit und Produktionsvolumen bleibt? Und was wäre, wenn Sie es den Mitarbeitern überlassen würden, ob man am Samstag um 6, 7 oder 8 Uhr anfängt – sozusagen eine „abgesprochene Gleitzeit“ für den Samstag einführt?

Ein anderes Beispiel, dieses Mal aus der Logistik: Viele Umschlagszentren haben Zielgrößen, welche täglichen Umschlagsmengen erreicht werden müssen. Und planen mit einer Personalverfügbarkeit, mit der man im täglichen Warenfluss über Wareneingang, Kommissionierung, Warenausgang usw. die Sollmenge erreichen kann. Das geschieht dadurch, dass Mitarbeiter auf Schichten einberufen werden. Zum Beispiel auf der Frühschicht mit festen Startzeiten (z. B. 6 Uhr morgens) oder auch versetzten, aber vorgegebenen Startzeiten. Eine Vorgehensweise, die nach meiner Erfahrung kaum hinterfragt wird. Aber wie wäre es, wenn Sie es den Mitarbeitern überlassen würden, wer zu welcher Zeit die Arbeit beginnt? Ich meine natürlich innerhalb von Vorgaben. Zum Beispiel, dass bestimmte Mindestbesetzungen ab 6 Uhr einzuhalten sind, der Arbeitsbeginn von den Mitarbeitern untereinander koordiniert und eine vorgegebene Arbeitskapazität mindestens eingehalten wird. Keine dieser Vorgaben ist aber ein echtes Argument gegen ein Mindestmaß an Arbeitszeitautonomie.

Sie sehen das Grundprinzip: Manchmal ist ein bisschen „Gleitzeit in der Schichtarbeit“ eben doch möglich. Man muss sich nur die Mühe machen, genauer hinzuschauen und bereit sein, Freiräume einzuräumen.

Wie fordern Sie die Schichtarbeit heraus?

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2023-08-18T17:07:50+02:0027. August 2020|
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